Blog zur Tagung „Geschichte Lernen digital“, 8. und 9. März 2013


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Die Lebenswelt der Heranwachsenden unterliegt seit einigen Jahren einem tiefgreifenden digitalen Wandel. Die alterstypischen Kommunikationen haben sich stark in digitale Social Networks verlagert (Facebook etc.), Informationen werden offenen Collaboratives (Wikipedia) oder Web-Angeboten entnommen, die nicht den herkömmlichen Reputationsregeln unterliegen (Blogs etc.). An gesellschaftlichen Wandlungen und Ereignissen nimmt man spontan, öffentlich und in Echtzeit teil (Twitter, Online-Threads etc.). Das Ende der Gutenberg-Galaxis scheint in der Generation der heute Heranwachsenden bereits eine Tatsache zu sein, die wiederum kaum absehbare Folgen für die Entwicklung des Geschichtsbewusstseins der Einzelnen und auch für die kollektive Geschichtskultur in Deutschland haben wird. Die historisch-politischen Bildungsangebote für die Kinder und Jugendlichen müssen auf diesen radikalen lebensweltlichen Wandel reagieren; sie müssen ihn aufnehmen und konstruktiv verarbeiten, wenn sie nicht ihrerseits „aus der Zeit fallen“ wollen. Die historisch-politische Bildung in Deutschland bleibt nur dann wirksam, wenn sie den Heranwachsenden herausfordernde Lernangebote macht, die diese in Form und Inhalt als relevant betrachten wollen und können. Besonders der  Geschichtsunterricht steht angesichts des absehbaren und zurzeit viel diskutieren digitalen Wandels an den Schulen – z.B.  hin zu digitalen, onlinefähigen Endgeräten für alle Schüler oder der wachsenden Bedeutung digitaler und Web2.0-basierter Bildungsmedien – vor ganz neuen  Herausforderungen.

In der Bundesrepublik haben dazu bereits vielfältige Bemühungen eingesetzt. Federführend hat die allgemeindidaktische Medienpädagogik in den vergangenen Jahren eine Neujustierung der Ansprüche an Medienkompetenzen angesichts des digitalen Wandels vorgenommen. Auch die akademische Geschichtsdidaktik hat begonnen, durch sozio-empirische Forschung die Spezifika der geschichtsbezogenen Erkenntnisgewinnung und -verarbeitung von Heranwachsenden im Internet und an digitalem Lehr-Lern-Material aufzuklären. Die (noch nicht sehr zahlreichen)  Ansätze und Projekte hierzu sind sich weitgehend darin einig, dass Lernkonzepte mit digitalen Medien nicht  Selbstzweck, sondern maßgeblich nach ihrem didaktischen Mehrwert zu beurteilen sind. Kontrovers und noch nicht entschieden ist die Debatte, ob historisches Lernen mit digitalen Medien eher nur eine Erweiterung des Medienspektrums bedeutet oder einen qualitativ neuen,  eigenständigen Lernbegriff  für sich beanspruchen kann. Die Geschichtsdidaktik steht vor der Frage, ob und wie ein Lernen an „digitalen Medien“ ihre Zentralkategorie ‚Geschichtsbewusstsein‘ tangieren (beispielsweise durch veränderte, hybride Formen historischen Erzählens) und ggf. eine Ergänzung kategorialer Theoriebezüge  und historischer Kompetenzbegriffe erfordern könnte.

Unter praktizierenden Lehrerinnen und Lehrern gibt es seit einigen Jahren – von der akademischen Geschichtsdidaktik bislang wenig beachtet –  mannigfaltige, vielfach anregende, manchmal aber auch diskussionswürdige  Versuche, konkrete unterrichtsmethodische Konzepte zu entwickeln, die für den Geschichts- und Politikunterricht den digitalen Wandel aufnehmen, ihn für Schülerinnen und Schüler und ihre Bedürfnisse didaktisch reflektieren. Besonders die empirische Forschung zum Geschichtslernen im Web2.0 könnte von einem engen Austausch mit diesen netzaffinen geschichtsdidaktischen Praktikern profitieren.

Die avisierte Veranstaltung möchte die „digitalen Praktiker“ und die akademische Geschichtsdidaktik ins Gespräch und in den Austausch bringen – und auch Gelegenheit zur direkten gegenseitigen Kritik geben. Besonders die Geschichtsdidaktik als akademische Disziplin steht im Hinblick auf ihre zentrale Aufgabe der historisch-politischen Multiplikatorenbildung (Lehreraus- und -fortbildung) in der wesentlichen Verantwortung, die Brücke zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Dynamik stabil und befahrbar zu halten. Der digitale Wandel der Lebenswelt erfordert es dringend, dass über eine angemessene und effektive Neuformatierung der historisch-politischen Bildung intensiv und mit hoher Transparenz ins nicht-wissenschaftliche Feld gestritten und nachgedacht wird.

„Geschichte Lernen digital“ soll den Auftakt einer erneuerten, gesellschaftlich geöffneten und breiter angelegten Debatte zum Thema bilden, für die – angesichts der stets vorauseilenden technischen und medialen Entwicklungen – auch in Zukunft hinreichend Diskussionsbedarf und v.a. großes fachdidaktisches Potenzial zu erwarten ist.

Quelle: http://gelerndig.hypotheses.org/tagung-idee-und-konzept; Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

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